Von Sarah Kane
Deutsch von Durs Grünbein
4.48 Uhr bezeichnet einen Moment der Klarheit, während der dunkelsten Stunde, kurz bevor die Sonne aufgeht. Einen Moment der Klarheit, der während einer depressiven Phase kurz Licht aufblitzen lässt. Einen Moment der Klarheit des psychotischen Geistes, der paradoxerweise für die Außenstehenden genau der Moment ist, in dem der Wahn am intensivsten spürbar ist. In Kanes letztem Stück »4.48 Psychose« kommen mehrere Stimmen zu Wort: verschiedene Splitter einer Person, die um ihr Selbst ringt, das dem Wahn anheimzufallen droht. Fast schon zärtlich blickt Kane auf diese Persönlichkeitsfragmente, die sich nicht mehr zu einem Ganzen zusammenfügen, aber sich dennoch existenziell nach Liebe, Ankommen und Einswerdung sehnen. Gerade in der dunkelsten Stunde ist der Schmerz an der eigenen Existenz, aber auch der Wunsch nach Erlösung am stärksten. Valentí Rocamora i Torà wird diesen Stimmen, die auch Ärzte, Pfleger, Geliebte und Liebende zu Wort kommen lassen, nicht nur sprachlich, sondern auch in der Bewegung nachspüren und tänzerisch erkunden. Wie verlassen fühlt sich die einsamste Stunde an? Wie beklemmend ist ein abgeschlossener Raum? Wie bedrohlich sind fremde Stimmen in einem leeren Zimmer? Welche Temperatur hat die Liebe, wenn der Geist mit einer Psychose kämpft? Wer bin ich und wie viele sind bei mir?
Sarah Kane
Sarah Kanes (1971-1999) Debütstück »Zerbombt« wurde 1995 uraufgeführt, war ein Skandal und machte die junge Britin über Nacht zu einer der einflussreichsten und prägendsten Dramatikerinnen in Europa. Nur vier Jahre später nahm sich Sarah Kane nach einem depressiven Schub, dessen Behandlung wohl als Material für »4.48 Psychose« diente, das Leben. »4.48 Psychose« wurde posthum im Juni 2000 uraufgeführt.